Kampfsport als demokratisches Phänomen / Teil 2

Kampfsport als demokratisches Phänomen / Teil 2

Budo als Wertevermittlung

Was kann Budo tun, um unsere Gesellschaft dabei zu unterstützen mündige und demokratische Bürger zu formen?

Ein gesellschaftliches Phänomen, wie bei den Ausschreitungen in Frankfurt oder Leipzig, wo vor allem Jugendliche sich mit der Polizei regelrechte Schlachten lieferten und dabei Steine gezielt auf Polizisten warfen, scheint seit einiger Zeit vermehrt hervorzutreten. Eine „meiner“ Mütter, deren drei Jungs im Alter von sieben, fünf und drei Jahren bei mir im Budo-Taekwondo-Unterricht sind, beendete eine Konversation unter Eltern mit den Worten: „Kannst du bitte machen, dass meine Jungs nie einen Stein auf einen Polizisten werfen werden?“

Wenn ich davon ausgehe, dass eine freiheitliche, friedfertige, demokratische Erziehung die Verhaltensstrukturen unseres westlich geprägten Lebensmodells darstellt, ist es kaum zu verstehen, was da in Frankfurt und Leipzig aus dem Ruder gelaufen ist. Funktioniert unsere Sozialisierung nur punktuell? Hängt sie einige ab und erreichen wir nicht alle?

Zunächst sind die Eltern und das Bildungsgerüst unserer Gesellschaft diejenigen, die uns erklären, wie das Leben funktioniert. Im Sport und besonders im Budo werden Regeln und klare Strukturen festgelegt und konsequent eingefordert, da sonst ein regelkonformes und gerechtes miteinander spielen oder trainieren nicht möglich wäre. In den vergangenen zehn bis 15 Jahren erleben wir, wie der Drang zur individuellen Darstellung und Präsentation der eigenen Persönlichkeit durch die sozialen Netzwerke weiter befeuert wird. Dies macht es für Kinder und Jugendliche fast zur Pflicht, sich immer noch extremer darzustellen. Versteckt und anonymisiert hinter einer Tastatur oder einem Avatar können alle zu Helden werden. Einige der Jugendlichen übersehen dabei, dass ohne unsere freiheitliche demokratische Grundordnung überhaupt keine individuelle Entwicklung möglich wäre.

Minderwertigkeitsgefühle  produzieren Aggressionen

Meine eigene Erfahrung aus den letzten 45 Jahren Kampfkunst zeigt, dass der Drang, einen Schwächeren „fertig zu machen“, immer ein klares Zeichen für ein Minderwertigkeitsgefühl ist. Jemand sucht sich einen Schwächeren als er selbst ist und macht aus ihm eine Zapfstelle, an der er sein Selbstbild aufbessert. Viele Jugendliche haben gelernt zu kompensieren. Sie vertuschen, sie überspielen ihren Mangel an Selbstbewusstsein durch die seltsamsten Verhaltensweisen, vom Weichei bis hin zum Machogehabe. Dies kann zu einem aggressiven Verhalten führen, wenn sie bemerken, dass die Anforderungen an sie als Teil der Gesellschaft zu hoch sind. Was ihnen oft nicht bewusst ist, ist dass das eigentliche Kompensieren  so viel mehr Kraft kostet, als zu lernen wie man mit Scheitern und Unzulänglichkeiten richtig umgeht. Das Zauberwort heißt auch hier: Verantwortung für sich und sein Handeln zu entwickeln. Viele Budo-Angebote arbeiten bewusst  in der Persönlichkeitsentwicklung.  Alleine der kultivierte Wettkampf bietet hier ungeahnte Möglichkeiten. Es kann  ein Verständnis für Respekt entstehen, denn wenn man selbst weiß wie sich das anfühlt, wenn man selbst dafür gekämpft hat, versteht man was damit gemeint ist.  In allen meinen Kindergruppen haben wir ein Ritual nach Wettkampfspielen aller Art: Wir setzen uns auf die Seite unseres Dojos und ich stelle jedes Mal die gleiche Frage: „Mit wem möchte man nicht spielen?“ Die Antworten kommen schnell: „Mit dem, der lügt“, „Der, der immer der Angeber ist“, „Der sich nicht an die Regeln hält“, „Der unfair ist, der zu grob ist, der immer rumjammert“. So lernen die Schüler der Drachenherzstunde (Drei- bis Sechsjährige), dass Wettkampf ein Wechselspiel ist und dass es wichtig ist, sich an Regeln und Vorgaben zu halten. Und dass das Ganze noch dazu Spaß macht. Das Leben ist ein riesiges Abenteuer und wartet auf euch. Diese wunderbare Welt ist für diejenigen gemacht, die sich mutig hinaus begeben um sie lebenswerter für uns alle zu machen.

Ich bin überzeugt, dass alle meine Schüler genau wissen, was falsch und richtig ist. Aber danach zu handeln, also richtig pro-sozial zu handeln, geht halt nur über Erfahrungen im richtigen Setting und dem daraus wachsenden Selbstwertgefühl. Genau das muss ständig neu erarbeitet werden.

 

Bewusste Wertevermittlung

Wenn uns die Chance gegeben wird Menschen auf ihrem Budo-Weg lange genug zu begleiten, muss unser Auftrag sein, sie mit den bei uns herrschenden Werten vertraut zu machen. Und diese auch einzufordern. Gerade das originäre Taekwondo kommt aus einer kollektivistischen Grundstruktur, wo die Gemeinschaft im Vordergrund steht. Dagegen leben wir in einer individualistischen Gesellschaft. Beide haben ihre Effekte, aber beide brauchen ihre Schwestertugend und das ist eine friedfertige freiheitliche demokratische Lebensweise. Kampfkunst wird nie alle erreichen und kann nicht in jedem Fall verhindern, dass Jugendliche aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus Steine werfen auf die Demokratie.

 

Quelle: Dana Ulrich und Uwe Mandler, Taekwondo Aktuell, Ausgabe 01 – 2021

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