Miteinander und füreinander

Miteinander und füreinander

Wie gelingt es uns, unsere Schüler dazu zu bewegen, sich auch um ihre Mitschüler zu kümmern, sie zu unterstützen und ihnen die nötige Wertschätzung entgegen zu bringen?

Eine eingeschworene Gemeinschaft – das wünscht sich jeder Trainer oder Lehrer für seine Schule oder seinen Verein. Soziale Gemeinschaften entstehen primär in den Familien, im Kindergarten, unter Freunden, Nachbarn und in der Schule. Aber einen nicht unerheblichen Anteil daran haben auch die Sportvereine und privaten Schulen.

Einen Gemeinschaftssinn zu etablieren, ist die Aufgabe eines Vereins oder einer Kampfsportschule. Die Schüler sollten hier als Menschen gesehen, gefördert und ebenso entsprechend ihrer Ressourcen gefordert werden.

„Es geht nicht darum Wissen  zu fördern, sondern darum,  am Wissen teilzunehmen.“ (Serge Moscovici)

Wir bringen ihnen bei, etwas auszuhalten. Die Schüler lernen den sogenannten Anstrengungsschmerz kennen, indem sie selbst etwas bewegen, etwas schaffen. So entsteht Selbstwirksamkeit und diese Selbstwirksamkeit ist der untere Nährboden eines gesunden Selbstwertgefühls. So gesehen ist der Schmerz ein Wachstumsschmerz, der uns zu einem größeren Ich führt. Zu einer Persönlichkeit, die nicht nur reagiert, sondern im Laufe des Unterrichts aus ihrem Willen heraus frei agiert. Vor einer Leistung muss auch immer eine Form von Motivation stehen. Der Wille etwas zu tun, eine Forderung anzunehmen und sie zu bewältigen und das auch gerade dann, wenn man nicht weiß wie, dies zu vermitteln, ist die Aufgabe eines budosport-pädagogischen Unterrichts.

„Intelligenz ist das, was man einsetzt, wenn man nicht weiß, was man tun soll.“ (Jean Piaget)

Hier steht der Lehrer vor einer großen Herausforderung, denn die Lust am Gefördert-werden zu aktivieren, ist die große Kunst eines Lehrers.

Im Grunde genommen geht es um das Vermitteln von einem pro-sozialen Selbstwertgefühl. Dieses bildet die Grundlage, um sich selbst realistisch einzuschätzen, was gleichermaßen beinhaltet, dass man sein Gegenüber in seiner Persönlichkeit annimmt und respektiert.

Unsere Gesellschaft befindet sich ständig im Wandel und so hat sich Choi Hong Hi in seinem Buch „Taekwon-Do“ (Der Koreanische Weg der Selbstverteidigung) von 1977 über den Verfall der Jugend geäußert. Dort heißt es auf Seite 511: „In den letzten Jahren konnten wir ein Zunehmen der Gewalttätigkeit und einen Verlust der Moral in allen Schichten der Gesellschaft, besonders jedoch unter den jungen Menschen, beobachten.“

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich jede Generation über die jeweilige Jugend echauffiert. Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass früher alles besser war.

Das Taekwondo entstand in einer kollektivistischen Gesellschaftsstruktur. Kollektivistische Kulturen legen Wert auf gegenseitige Abhängigkeiten, Harmonie, Einordnung sowie Bedürfnisse und Ansprüche der Gruppe; individualistische Kulturen dagegen schätzen Unabhängigkeit, Konkurrenz sowie die Bedürfnisse und Rechte des Individuums.

Zeigen Sie einer Mutter aus einer individuellen Kultur einen Cartoon mit einem Fischschwarm, dem ein einzelner Fisch voranschwimmt und sie wird ihrem Kind erklären, das sei der Anführer.

Zeigen Sie einer Mutter aus einer kollektivistischen Kultur den gleichen Cartoon mit dem Fischschwarm, und sie wird sagen, der einzelne Fisch müsse etwas falsch gemacht haben, da niemand mit ihm spiele (vgl. Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl). Zugegeben haben beide Kulturen ihre Vorzüge und Nachteile. Mittlerweile hat man den Eindruck, dass die ostasiatische Kultur sich nach der individualistischen sehnt und umgekehrt, die individualistischen Kulturen sich nach den kollektivistischen Werten ausrichten möchten.

Was heißt das jetzt für uns? Hier sehe ich eine große Herausforderung für unsere Kampfsportschulen und Vereine, die ja von Haus aus den Gemeinschaftsgedanken mit sich bringen und bei denen schon zu Vater Jahns Zeiten die Geselligkeit und der Zusammenhalt eine zentrale Rolle spielte.

Gleichermaßen stellen sich hier die Fragen: Hat der Wettkampfsport, also der olympische Leistungsgedanke des Taekwondo den Auftrag kampfsportspezifische Werte zu vermitteln? Oder zählt er zu den anderen Sportarten, die letztlich nur die Medaillen als Ziel sehen? Ab wann ist ein Taekwondo-Training persönlichkeitsfördernd im Sinne des Do, des Budo?

Meiner Meinung nach handelt es sich dann um das originäre Taekwondo, wenn man es schafft, es in unsere Lebenswelt zu übersetzen – als ein Förderband sozialer Kompetenzen, ein Nährboden auf dem Selbstwirksamkeit und Selbstbewusstsein entstehen und wachsen kann. Es muss gelingen, die Vorzüge einer kollektivistischen Grundhaltung mit unseren individualistischen Werten zu vereinen.

Wie das im Einzelnen aussehen kann, zeigen uns die Schulen und Vereine die es geschafft haben, ein Füreinander und ein Miteinander zu leben, es vorzuleben und  es stetig zu pflegen.

Quelle: Uwe Mandler, Taekwondo Aktuell, Ausgabe 11 – 2020

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